im Wintersemester 2024/25 zum Thema #LAND #JUGEND #KULTUR
Jugendkulturelle Selbstorganisation im Fokus: Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis“
Zoomlink für die Vorträge immer MONTAGS von 16:00h bis 17:30h
Abstract
Seit einigen Jahren sind ländliche Räume zurück auf der politischen und medialen Agenda: Sei es als imaginierte ländliche Idylle (Baumann 2018), Orte des „guten Lebens“ (Nell 2022), boomende Immobilienmärkte und touristische Destinationen (Steiner et al. 2023) oder aber als sogenannte abgehängte Räume (Pike et al. 2023), gar als zentrale Wählerreservoirs der rechts(extremen) AfD (Belina 2022)…
#1
Grundlagen:
Jugend, Jugendkulturen und ländliche Räumen
Was meinen wir mit Jugend, Jugendkulturen oder ländlichen Räumen? Wie beeinflussen diese Konzeptionen unsere Forschung und damit auch unsere Ergebnisse?
#2
Zugänge, Methoden & Herausforderungen in der Jugendforschung
Wie forscht man mit/zu Jugendlichen? Welche Zugänge bieten sich an? Über welche Themen erreichen wir Jugendliche und wie funktioniert partizipative Forschung?
#3
Förderung jugendkultureller Selbstorganisation: Strukturen, Bedarfe, Konfliktlinien
Welche Strukturen benötigt es, um Jugendkulturen in ländlichen Räumen bedarfsgerecht zu fördern? Vor welchen Herausforderungen stehen wir hier konkret?
Die Vorträge
Prof. Dr. Bernd Belina Goethe Uni Frankfurt „Provinz“ und Jugend (-zentrumsbewegung): Kritische Debatten der 1970er Jahre zu ländlichen Räumen und was sie für heute bedeuten können | |
In den 1970er Jahren haben Progressive in Westdeutschland die „Provinz“ entdeckt: als theoretisches Problem, als politische Herausforderung, aber auch als Ort überraschender fortschrittlicher Praxis. Neben den Anti-AKW-Bewegungen ist vor allem die Jugendzentrumsbewegung zu nennen. Schüler*innen, Lehrlinge und andere junge Menschen haben in zahlreichen Mittel- und Kleinstädten selbst Räume organisiert und bespielt, an denen u.a. diskutiert, hinterfragt und Erfahrungen gemacht wurden. Im Vortrag wird dies zum einen in Anlehnung an zeitgenössische Theoriedebatten als „anti-provinziell“ gekennzeichnet, und zugleich als begünstigt durch den „Provinzeffekt“. | |
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Prof. Dr. Cathleen Grunert & Dr. Katja Ludwig MLU Halle Wie kann man hier (auch künftig) sein? Jugendliche als Raumakteure peripher(isiert)er ländlicher Regionen | |
Peripherisierungsprozesse in ländlichen Räumen haben in den letzten Jahren den Blick auf regional-räumliche Ungleichheiten geschärft. Thematisierungen der Folgen von Peripherisierung bewegen sich dabei zwischen Krise und Chance, zwischen ‚Abgehängtsein‘ und Potentialitäten für die Regionalentwicklung. Jugendliche sind in diesen Szenarien einmal die ‚Verursacher‘ oder ‚Leidtragenden‘, die die Region verlassen oder mit den negativen Folgen umgehen müssen und einmal die ‚Hoffnungsträger‘, die Regionen auch gestalten und wiederbeleben können. Im Spiegel räumlicher Platzierungen verschmelzen so nicht nur gesellschaftspolitische Diskurse um Zukunft und Demokratie, sondern auch die Fragen nach Teilhabe und Zugehörigkeit. Auf der Basis einer empirischen Studie zu Jugend und ländlichen Räumen geht der Vortrag in diesem Spannungsfeld der Frage nach, welche Relevanz die lokale Platzierung in peripherisierten ländlichen Räumen für Jugendliche überhaupt besitzt und wie sie sich selbst dazu mit Blick auf die eigene Lebensgestaltung in ein Verhältnis setzen. | |
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Prof. Dr. Andreas Klärner Thünen Institut Braunschweig Gibt es eine Geographie der Unzufriedenheit? Soziale und politische Konsequenzen räumlicher Ungleichheiten | |
Wachsende räumliche Ungleichheiten innerhalb von Nationalstaaten wurden von Medien und Forscher:innen als Risiko für den sozialen Zusammenhalt, als Quelle sozialer und politischer Spaltungen beschrieben. Am prominentesten ist die Debatte über die „Rache der unbedeutenden Orte“, in der argumentiert wird, dass räumliche Ungleichheiten zu einer weit verbreiteten Unzufriedenheit in der Bevölkerung benachteiligter Regionen führen, die sich von wirtschaftlichen Entwicklungen „abgehängt“ und von den nationalen Regierungen vernachlässigt fühlen. Der Aufstieg (rechts-)populistischer Parteien wird als Folge dieser „Gefühle des Abgehängtseins“ angesehen, und es wird eine „Geografie der Unzufriedenheit“ gezeichnet. In dem Vortrag wird der Stand der Debatte bilanziert und mit Beispielen aus einer laufenden Fallstudie in Ostdeutschland, Tschechien und Polen illustriert. | |
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Prof. Dr. Melanie Groß FH Kiel Lost auf dem Land? Queere Jugendliche und Räume des Empowerments | |
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Nils Rusche AGJ / Jugendgerecht.de Wie geht Jugendgerecht? Visionen für ländliche Kommunen | |
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Tobias Burdukat TH Nürnberg / YOPE gGmbH Freiräume ermöglichen – die Konzeption „Dorf der Jugend“ | |
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DIYhocha3 Team Uni Bamberg, KU Eichstätt-Ingolstadt Jugendkulturelle Selbstorganisation in ländlichen Räumen: Perspektiven aus dem Dreiländereck Bayern-Sachsen-Thüringen |
Abstract
Seit einigen Jahren sind ländliche Räume zurück auf der politischen und medialen Agenda: Sei es als imaginierte ländliche Idylle (Baumann 2018), Orte des „guten Lebens“ (Nell 2022), boomende Immobilienmärkte und touristische Destinationen (Steiner et al. 2023) oder aber als sogenannte abgehängte Räume (Pike et al. 2023), gar als zentrale Wählerreservoirs der rechts(extremen) AfD (Belina 2022). Oftmals erfahren ländliche Räume Benachteiligungen hinsichtlich zentraler Infrastrukturen wie ÖPNV, Kultur und Freizeit oder Ausbildung und Nahversorgung (Belina et al. 2022). Da kommunale Haushalte häufig unterfinanziert sind und privatwirtschaftliche Investitionen oft wenig lukrativ scheinen, fehlt es in ländlichen Räumen überdies häufig an sozialen Orten (Neu & Nikolic 2020). Eine der Gegenstrategien zu dieser sozio-strukturellen Ausdünnung in peripheren ländlichen Regionen liegt in Praktiken des Anpackens und Selbermachens, also in der Aktivierung der Zivilgesellschaft und der Auslagerung von Aufgaben der Daseinsvorsorge auf das Ehrenamt (van Dyk & Haubner 2021). Wo sich der Wohlfahrtssaat zurückzieht, sind Vereine, Verbände und insbesondere engagierte Individuen zentrale Bausteine einer bottom-up Transformation der sozio-ökonomischen (ländlichen) Peripherie (Gabler 2021).
Weniger im Fokus bisheriger Betrachtungen stehen dabei jungen Menschen in ländlichen Räumen (Grunert/Ludwig 2023), die ihre Lebensräume oftmals selbst gestalten (müssen) (Mey 2020), sei es im Bereich von Musik, Sport, Party oder Tradition. Ländlichen Jugendkulturen und der Gestaltung ihrer Orte liegen häufig selbstorganisatorische Ansätze zugrunde, die vielfältige Vergemeinschaftungs- und Raumaneignungsformen hervorbringen. Aktuelle Studien zeigen, dass Jugendliche gerade diese sozio-kulturelle Vielfalt als Bleibe- oder Rückkehrgrund sehen und ihr ländliches Umfeld darüber als besonders lebenswert und gestaltbar wahrnehmen (Schäfer et al. 2020, Antes et al. 2022). Über die Funktionsweisen dieser selbstorganisierten Jugendkulturen und ihrer Orte ist jedoch wenig bekannt. Darüber hinaus lassen sich für strukturschwache ländliche Räume Peripherisierungsprozesse beobachten, die räumliche Ungleichheiten intensivieren und für junge Menschen Zugangs- und Teilhabechancen so limitieren, dass ihnen deutlich weniger Handlungsspielräume zur Ausformung ihrer Lebensziele zur Verfügung stehen (Barlösius & Neu 2008). Somit ergeben sich Herausforderungen für eine zielgerichtete Förderung jugendkultureller Vergemeinschaftungsformen in ländlichen Räumen. Vor diesem Hintergrund soll die Ringvorlesung Strukturen, Maßnahmen und progressive Visionen aufzeigen, die zu einer bedarfsgerechten Förderung selbstorganisierter Jugendkulturen in ländlichen Räumen beitragen. Insbesondere im dritten Modul steht hierbei ein produktiver Dialog zwischen Forschung und Praxis im Zentrum der Veranstaltung.
Zu Beginn der Ringvorlesung werden wir gemeinsam mit ausgewiesenen Expert*innen die Konzepte Jugend und Jugendkultur aus einer (historisch) kritischen Perspektive betrachten, sowie diese in den Kontext von Peripherisierung und räumlicher Ungleichheit bzw. vor dem Hintergrund aktueller Diskurse um Land und Ländlichkeit einordnen. Außerdem sollen Auswirkungen jugendkultureller Orte auf die Wahrnehmung von Selbst, Gemeinschaft und Zukunft im Spannungsfeld zwischen Stadt und Land thematisiert werden. Die Jugendforschung, wie auch die Praxis, stehen hierbei zunächst allerdings vor der Herausforderung, Zugänge zu einer (zumal vielfach digital agierenden) Jugend zu finden, fehlt es in ländlichen Räumen doch oftmals an öffentlichen bzw. häufig frequentierten Orten
sozialer Interaktionen. Die Ringvorlesung wird sich demnach ebenso den Herausforderungen im Zugang zu Jugendlichen widmen, mögliche Ansätze und Methoden aufzeigen und in einem Fachpublikum aus Wissenschaft und Praxis zur Diskussion stellen.
Die Veranstaltung findet im Rahmen des durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft geförderten Forschungsprojekts „DIYhoch3 – Jugendkulturelle Selbstorganisation im Dreiländereck Bayern-Sachsen-Thüringen“ statt. Ziel des laufenden Forschungsvorhabens ist die Analyse der Räume und Möglichkeiten von Jugendkulturen in ländlichen Räumen und damit die Elaboration von Gelegenheitsstrukturen und Ermöglichungsbedingungen selbstorganisierten kulturellen Lebens. Der regionale Fokus liegt auf dem Dreiländereck Bayern, Sachsen und Thüringen und umfasst die Landkreise Hof, Saale-Orla-Kreis und Vogtlandkreis.
Literatur
- Antes, W., Wenzl, U., Wichmann, S. (2022). Jugend im ländlichen Raum Baden-Württembergs: Aufwachsen – Mitgestalten – Leben. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren GmbH.
- Barlösius, E., & Neu, C. (2008). Territoriale Ungleichheit: Eine spezifische Ausprägung räumlicher Ungleichheit. Peripherisierung–eine neue Form sozialer Ungleichheit, 17–23.
- Baumann, C. (2018). Idyllische Ländlichkeit: Eine Kulturgeographie der Landlust. Bielefeld: transcript.
- Belina, Bernd (2022): Zur Provinzialität der AfD. In: Daniel Mullis und Judith Miggelbrink (Hg.): Lokal extrem Rechts. Bielefeld: transcript Verlag (48), S. 43–60.
- Belina, B., Kallert, A., Mießner, M., Naumann, M., (Hg.) (2022): Ungleiche ländliche Räume. Widersprüche, Konzepte und Perspektiven. Bielefeld: transcript
- Dyk, van, S. & Haubner, T. (2021): Community-Kapitalismus. Hamburg: Hamburger Edition.
- Gabler, J. (2021). Transformativ forschen – transformativ handeln: Gesellschaftliche Erneuerung in der Peripherie. In J. Herberg, J. Staemmler, & P. Nanz (Hg.), Wissenschaft im Strukturwandel: Die paradoxe Praxis engagierter Transformationsforschung (pp. 267–292). oekom Verlag.
- Grunert, C. & Ludwig, K. (2023): Jugendbeteiligung in peripher(isiert)en ländlichen Regionen. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung Heft 2-2023, S. 183–200.
- Mey, G. (2020), Lebensrealitäten von Jugendlichen in ländlichen Regionen, in: Farin, K & Mey, G (Hg.), Wir. Heimat – Land – Jugendkultur (S. 20-34), Berlin.
- Neu, C. & Nikolic, L. (2020). Mythos Gemeinschaft? Vom sozialen Zusammenhalt in ländlichen Räumen. In C. Krajewski & C.-C. Wiegandt (Eds.), Land in Sicht: Ländliche Räume in Deutschland zwischen Prosperität und Peripherisierung (pp. 170–183). Bundeszentrale für Politische Bildung.
- Schäfer, T., Stöckl, M. & Vossen, J. (2020). Stadt, Land, wo?: Was die Jugend treibt; Ergebnisse und Impulse der Untersuchung zu Bleibe- und Wanderungsmotiven junger Menschen in ländlichen Räumen. München: Landesstelle der Katholischen Landjugend Bayerns e.V.
Die Vorträge
„Provinz“ und Jugend(-zentrumsbewegung): Kritische Debatten der 1970er Jahre zu ländlichen Räumen und was sie für heute bedeuten können
In den 1970er Jahren haben Progressive in Westdeutschland die „Provinz“ entdeckt: als theoretisches Problem, als politische Herausforderung, aber auch als Ort überraschender fortschrittlicher Praxis. Neben den Anti-AKW-Bewegungen ist vor allem die Jugendzentrumsbewegung zu nennen. Schüler*innen, Lehrlinge und andere junge Menschen haben in zahlreichen Mittel- und Kleinstädten selbst Räume organisiert und bespielt, an denen u.a. diskutiert, hinterfragt und Erfahrungen gemacht wurden. Im Vortrag wird dies zum einen in Anlehnung an zeitgenössische Theoriedebatten als „anti-provinziell“ gekennzeichnet, und zugleich als begünstigt durch den „Provinzeffekt“. (Bernd Belina)